26.07.2017

Lisa Sandlin – Ein Job für Delpha


(«The Do-Right», Cinco Puntos Press, El Paso 2015). 

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf. 

Suhrkamp, Berlin 2017, 351 Seiten.


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Der erste Satz
Sie erkundigte sich nach der Stelle in der Anzeige.

Das Buch
Am Krimi «Ein Job für Delpha» der Amerikanerin Lisa Sandlin sind ein paar Sachen ungewöhnlich. Erstens war die Texanerin schon 64-jährig, als ihr erster Roman vor zwei Jahren im Original erschien. Zweitens ist er aber keineswegs ein netter Alte-Damen-«Whodunit», wie man auch des deutschen Titels wegen vermuten könnte. Drittens haucht der Roman einem bedeutenden, in den letzten Jahrzehnten aber fast verschwundenen Subgenre der Kriminalliteratur neues Leben ein: dem Privatdetektivroman. Und, viertens, dabei ist nicht der Detektiv die Hauptfigur, sondern dessen Sekretärin. Die darf noch so heissen und muss nicht Assistentin genannt werden. Denn der Roman spielt anno 1973. Schauplatz ist Beaumont, wo die Autorin aufgewachsen ist, eine Ölstadt mit etwas mehr als hunderttausend Einwohnern im Südosten von Texas, an der Grenze zu Louisiana; in der Populärkultur ist die Stadt vor allem bekannt als Heimat der Bluesrocklegende Johnny Winter.
Die Geschichte setzt ein mit der im deutschen Titel angesprochenen Jobsuche von Delpha Wade. Sie ist gut 30-jährig und nach 14 Jahren auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen worden. Als Teenager hatte sie ihren Vergewaltiger, der sie töten wollte, erstochen und dessen Vater, der sie auch vergewaltig hatte, verletzt. Vor Gericht galt die Aussage des Familienvaters mehr als die des Mädchens. Im Knast hat sie sich zur Sekretärin ausgebildet. Durch Fürsprache ihres Bewährungshelfers kommt sie bei Tom Phelan unter. Der Vietnamveteran hat auf einer Ölplattform gearbeitet und da einen Finger verloren; jetzt versucht er sich als Privatdetektiv. Die erhofften grossen Aufträge von Firmen bleiben vorerst aus. Phelan, von der im Knast in vielen Lebensfragen geschulten Delpha Wade unterstützt, muss einen Jungen suchen, der nicht nach Hause gekommen ist, und eine von den Geschwistern eines Einbeinigen behändigte Beinprothese wiederbeschaffen. Interessanter wird es, als eine Frau Phelan beauftragt, ihren Mann mit seiner Geliebten zu fotografieren. Nachdem auch dieser Auftrag zur Befriedigung der Auftraggeberin erledigt ist, kommen Phelan und Wade unabhängig darauf, dass die Auftraggeberin gar nicht die Frau des Fremdgängers war. Zufällig ist sie die Mutter des jungen Mannes, mit dem Delpha sich im Bett vergnügt. Und die möchte, dass ihr Junge zurück ans College geht. Phelan will die Hintergründe des Auftrags klären und ermittelt, auch mangels anderer Arbeit, weiter. Er stösst auf ein tödliches Komplott, bei dem es natürlich um Geld geht, um viel Geld. Und irgendwann geht es auch um den überlebenden Vergewaltiger.
Lisa Sandlin, die als Professorin Schreiben lehrt, baut ein Puzzle aus vielerlei Elementen auf, die sich dann auf mehr oder weniger überraschende Art mehr und mehr zusammenfügen. Vielleicht fügt sich etwas viel etwas gar glatt zusammen, und nicht alles lässt sich logisch komplett nachvollziehen. Aber das ist nicht entscheidend, war es auch bei Raymond Chandler nicht, einem der grossen Klassiker des Genres. An Autoren wie Chandler und Dashiell Hammett erinnert Sandlins Roman durchaus. Nicht nur wegen den schlagfertigen Dialogen, den witzigen Beobachtungen und den eingestreuten trockenen Lebensweisheiten, sondern vor allem auch wegen dem sozialkritischen Blick auf die Gesellschaft. Lisa Sandlin ergeht sich nicht in romantischer Nostalgie, sie erzählt hart und genau. Und auch die Politik wird nicht ausgeblendet. Es ist die Zeit der Watergate-Affäre, die Menschen verfolgen die Befragungen von Präsident Richard Nixon, der sich auf «Amtsimmunität» beruft und die Aussage verweigert: «Soweit Phelan verstand, bedeutete das so viel wie: Leckt mich, ich bin der Präsident und ihr nicht.»
Dieses Debüt macht Lust auf mehr von Delpha Wade und Tom Phelan. Lisa Sandlin arbeitet daran.

Die Autorin
Lisa Sandlin, geboren 1951 in Beaumont, Texas, unterrichtet kreatives Schreiben an der University of Nebraska in Omaha. Seit den 1990er-Jahren hat sie mehrere Bände mit Kurzgeschichten veröffentlichte. Die Shortstory «Phelan’s First Case» wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und 2013 in die renommierte Anthologie «USA Noir: Best of the Akashic Noir Series» aufgenommen. Ihr erster Roman «The Do-Right» («Ein Job für Delpha»), der 2015 erschien, nimmt die Figuren aus dieser Story auf. Der Roman wurde mit zwei wichtigen amerikanischen Krimipreisen, dem Hammett Prize und dem Shamus Award, ausgezeichnet. Die Texanerin lebt in Omaha, Nebraska und, im Sommer, in Santa Fe, New Mexico.


21.07.2017

Antonin Varenne – Die Treibjagd




(«Battues», Editions Ecorce, La Croisille-sur-Briance 2015)

Aus dem Französischen von Susanne Röckel

Penguin Verlag/Random House, München 2017, 302 Seiten 



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Der erste Satz
«Als ich geboren wurde, war R. noch eine Stadt.»
  

Das Buch
Wäre «Die Treibjagd» ein amerikanischer Roman, würde er als «Country Noir» bezeichnet. Hinter amerikanischen Grössen des Genres muss sich der Franzose Antonin Varenne mit seinem siebten Roman keineswegs verstecken. «Battues», wie das Buch im Original heisst, «Geschlagene», hat auch etwas von einem Western. Zwei verfeindete Familien herrschen über die Stadt in der Region Limousin im französischen Zentralmassiv, die nur als R. bezeichnet wird; ehemalige Bauernfamilien, die ihr Reich durch Zukäufe stetig vergrösserten. Den Courbiers gehören die Wälder, den Messenets das Landwirtschaftsgebiet. Und dazwischen steht Rémi Parrot, der Revierjäger (Wildhüter, würden wir in der Schweiz sagen), der seit einem Unfall in seiner Jugend entstellt ist und quasi den lonesome Cowboy gibt.
Es ist ein trostloser Ort, der schon bessere Zeiten gesehen hat: «Die Hälfte der Häuser steht leer, alles ist heruntergekommen, die Geschäfte in der Hauptstrasse wechseln jedes Jahr den Besitzer, und die Hälfte der Läden steht zum Verkauf. Die Bevölkerung muss die älteste von ganz Europa sein, und die Jungen versammeln sich zum Komasaufen. Sie raufen sich nicht mehr, sie hängen sich am nächsten Baum auf.» Ausländer leben keine hier, doch bei den Wahlen erreicht der Rassismus «einen guten nationalen Mittelwert». Als Sündenböcke dienen die Zigeuner, die in einem Lager ausserhalb des Städtchens campieren, und gerne auch die Umweltaktivisten auf dem nahen Hochplateau. Das Verschwinden eines der Letzteren bringt eine Dynamik in Gang. Es gibt Morde, die Zellstofffabrik der Courbiers brennt nieder, ein illegales Atommülllager wird entdeckt, und es stellt sich heraus, dass die vermeintlich verfeindeten Familien im Naturparkgebiet auf dem Plateau gemeinsam ein gigantisches Tourismusprojekt planen. Dass bei der grossen Treibjagd auf Rémi geschossen wird, ist sicher kein Versehen; es kommen mehrere Verdächtige in Frage. Vielleicht der Bruder von Michèle Messenet, die laut Rémi «zu schön für diesen Ort» ist, aber nach Jahren zurückgekehrt ist und sich wieder mit ihrer alten Liebe Rémi trifft.
Varenne erzählt kraftvoll, aber angenehm unaufgeregt. Mit der Verschachtelung des zeitlichen Ablaufs steigert er die Spannung, ohne dafür simple Tricks zu brauchen. Die archaische Geschichte um Schuld und Sühne ist allgemein gültig, sie könnte irgendwo spielen. Doch die Verankerung in einem realistischen regionalen Setting – Varenne lebt in der Gegend, die er ebenso einfühlsam wie schonungslos zu beschreiben versteht – gibt ihr erst die Authentizität, die sie wirklich bewegend macht. Dass die Beziehung zwischen Rémi und Michèle auch noch eine herzergreifende Liebesgeschichte liefert, schadet dem Roman in keiner Weise. Die Protagonisten sind vielschichtig, bedienen keine simplen Klischees. Es gibt nicht einfach Gut und Böse, das sich klar voneinander unterscheidet. Rémi Parrot ist zwar der Good Guy, doch Commandant Vanberten, ein Auswärtiger – «Auch wenn er seit hundert Jahren hier lebte, Alkoholiker geworden war und zehnmal den ‹Grossen Wettbewerb der Kartoffelesser› gewonnen hatte, würde er nie als Einheimischer gelten.» – und wahrscheinlich der einzige nicht korrupte Mensch in diesem Tal, kommt zum Schluss: «Nicht anders als Ihre Mitmenschen hier kennen Sie keine Gerechtigkeit, Monsieur Parrot, nur Rache.»

Der Autor
Antonin Varenne, geboren 1973 in Paris, studierte in Paris Philosophie. Er soll als Hochhauskletterer und Zimmermann tätig gewesen sein, lebte in Island, Mexiko und in den USA. Seit 2006 veröffentlichte er neun Bücher; auf Deutsch erschienen sind vor «Die Treibjagd» «Fakire» («Fakirs»; Ullstein, 2011) und «Die sieben Leben des Arthur Bowman» («Trois mille chevaux vapeur»; C. Bertelsmann, 2015). Varenne lebt im Departement Creuse – in der Gegend, in der «Die Treibjagd» spielt.

13.07.2017

Tania Chandler – Zwei Leben





(«Please Don’t Leave Me Here», Scirbe, Melbourne 2015)

Aus dem australischen Englisch von Karen Witthuhn

Suhrkamp, Berlin 2017, 317 Seiten  

*** ½ 



Der erste Satz
Die Online-Ausgabe von The Age meldet einen ereignislosen Tag: Premierministerin Julia Gillard rügt Alkoholexzess von Footballspieler, Promiköchin Nigella Lawson engagiert persönlichen Fitnesstrainer.

Das Buch
Der Soundtrack des Buchs wird zwar mehrheitlich von Nick Cave and the Bad Seeds bestritten, doch Kurt Cobain ist allgegenwärtig: Er taucht ständig in den Träumen von Brigitte auf, er sitzt neben ihr im Auto, wenn sie etwas benebelt von zu vielen Tabletten und Alkohol unterwegs ist. Und die Ratschläge, die er ihr da erteilt, sind nicht die besten. Brigitte ist die Hauptfigur des Debütromans «Zwei Leben» der Australierin Tania Chandler. Brigitte leidet. An Rückenschmerzen, den Folgen eines Unfalls vor 14 Jahren. An der Ehe, die nicht mehr ist, was sie mal war. An der Verantwortung für ihre Zwillinge. An ihrer Vergangenheit. Letztere holt sie ein, als sie eines Morgens liest, dass der ungeklärte Mordfall am Konzertveranstalter Eric Tucker im Jahr 1994 von der Polizei neu aufgerollt werde. Mit Tucker hatte Brigitte zusammengelebt, als sie 19 war und in einem Stripclub arbeitete. Er war viel älter als sie, er misshandelte sie und er handelte mit Drogen. Brigitte war die Hauptverdächtige in dem Fall. Doch die Tötung konnte ihr nicht nachgewiesen werden.
Tania Chandler gliedert die alptraumhafte Geschichte, die sie gekonnt zwischen Wahn und Wirklichkeit balanciert, in drei Teile. Im ersten Teil lebt Brigitte 2008 als Mutter von vierjährigen Zwillingen in Melbourne, ist verheiratet mit einem Polizisten, den sie nach ihrem Unfall vor 14 Jahren kennengelernt hatte. Teil zwei blendet zurück in ihr Leben von 1994. Sie ist in Melbourne geblieben, nachdem ihre Mutter, die sie mit Lebensratschlägen von der Art, «Steig nicht zu einem fremden Mann ins Auto. Ausser es ist ein Porsche», versorgte, weggezogen war. Im Nachtclub macht sie gutes Geld, und Tucker hat eine tolle Wohnung. Probleme werden durch Alkohol und Drogen ausgeblendet. Doch als sich Brigitte in einen jungen Schriftsteller verliebt, werden die Probleme ernster. Und sie eskalieren bis zum Tod Tuckers und dem Unfall Brigittes. In einem kurzen dritten Teil knüpft Chandler wieder am ersten Teil an. Die Teile tragen übrigens die Titel von Nirvana-Songs von Cobain: «Come As You Are» (Teil 1 und 3) und «About a Girl» (Teil 2). Während Teil 1 noch wie ein typischer Thriller daherkommt, wird die Rückblende auf das «Girl» mehr zu einer Entwicklungsgeschichte mit starken psychologischen Aspekten. Die Familiengeschichte ist von Bedeutung, die Beziehung Brigittes zu ihren Grosseltern und ihrem Bruder. Es geht um Schuldgefühle, um Selbstekel. Und vor allem geht es für die Protagonistin darum, sich selbst zu finden. Das gibt dem eindrücklichen Debüt Tiefe.
Tania Chandler ist eine sehr interessante Entdeckung, die nach den Ausgaben ihres Erstlings in Australien und England jetzt erstmals übersetzt wurde. Eine neue Stimme aus Australien. Down Under ist immer wieder für starke Krimimalliteratur gut. Die Bücher von Autoren wie Garry Disher, von Peter Temple und Alan Carter etwa kann man seit Jahren unbesehen kaufen. Erfreulicherweise kommen aus Australien jetzt auch immer mehr spannende Autorinnen auf Deutsch heraus: Herausragend sind Candice Fox mit ihrer spektakulären «Eden»-Trilogie (Suhrkamp) und Jane Harper mit dem starken Kleinstadt-Thriller «The Dry» (Rowohlt).

Die Autorin
Tania Chandler, geboren in Melbourne, wo sie immer noch lebt, arbeitet als Redaktorin. 2015 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Please Don’t Leave Me Here», der jetzt als «Zwei Leben» auf Deutsch erschienen ist. Die dieses Jahr erschienene Fortsetzung «Dead in the Water» soll im Februar 2018 als «Ein drittes Leben» auf Deutsch erscheinen.